Es ist schon erstaunlich: George Berkeley veröffentlichte sein wohl wichtigstes Werk bereits im Jahr 1710. Eine Abhandlung über die Prinzipien menschlicher Erkenntnis nimmt im Grunde den Radikalen Konstruktivismus vorweg. Diese Strömung der Philosophie entstand ganze 250 Jahre später.
Die vorgeschlagene Theorie der Interaktion kann (muss aber nicht) durchaus als Variante des Konstruktivismus interpretiert werden. Doch auch zu Berkeleys Argumentation gibt es zumindest einen entscheidenden Unterschied.

George Berkeley, Vordenker des radikalen Konstruktivismus. Erst 250 Jahre später fanden sich Philosophen, die eine ähnlich radikale Position vertraten.
In der relativ kurzen Abhandlung vertritt er die These, dass das Sein der Dinge einzig und allein im Wahrgenommen werden besteht: „Es ist daher nicht möglich, dass ihnen irgendein Dasein außerhalb des menschlichen Geistes zukommt, bzw. von etwas wahrgenommen wird, was nicht denkt.“
Der Radikale Konstruktivismus, getragen unter anderem von Ernst von Glasersfeld, Heinz von Förster, Jean Piaget und Paul Watzlawick, sieht die Wirklichkeit ähnlich:
Nach ihm liefert eine Wahrnehmung kein Abbild einer bewusstseinsunabhängigen Realität. Realität stellt für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung dar. Deshalb ist nach ihm Objektivität unmöglich.
Auf Seite 37 (Reclam) wird Berkeley noch deutlicher:
„Es ist in der Tat eine merkwürdig weit verbreitete Meinung unter den Menschen, dass Häuser, Berge. Flüsse, mit einem Wort, dass alle Sinnesgegenstände eine natürliche oder reale Existenz haben, die von ihrem Wahrgenommen werden durch den Verstand verschieden ist.“
Berkeley, Konstruktivismus und Interaktionstheorie
Auch die Interaktionstheorie kann durchaus als Variante des Konstruktivismus interpretiert werden (muss aber nicht). Nach dieser bedingt Interaktion Existenz. Alles was existiert, steht miteinander in ständiger Wechselwirkung: alles interagiert. Berkeley allerdings legte sich jedoch eindeutig darauf fest, dass die Realität einzig und allein durch den Menschen wahrgenommen werden kann. Die Interaktionstheorie, die dem Menschen, welchen sie als bestimmtes (eben menschliches) Verhältnis von immanenter und transzendenter Existenz interpretiert, hier eine Sonderposition ganz entschieden abspricht. Vielmehr ist ein solches Verhältnis Grundeigenschaft jeder Entität im Multiversum, was bedeutet, dass jedes mögliche interaktionsverhältnis einer eigenen Realität, oder dem subjektiven Universum, entspricht.
Selbstverständlich stimme ich Berkeley natürlich insofern zu, als die menschliche Realität eben nur durch Menschen wahrgenommen werden kann. Insofern kann die menschliche Realität auch nicht ohne dem Menschen existieren. Dabei klammert er allerdings alle anderen möglichen Welten des Multiversums völlig aus – und das sind ziemlich viele.
Thomas Heindl, 2016